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Leben im Überfluss -- Luxus: Eine verbrannte Perspektive?

Luxus ist ein "Mehr an Dingen", ein Freiheitsgewinn, eine Erweiterung unserer Möglichkeiten. Heute wird das "Mehr an Dingen" zu einem "Weniger an Möglichkeiten". Der Ethiker Jean-Pierre Wils denkt über eine Begriffsänderung nach: Luxus als ein "Weniger an Dingen". Von Jean-Pierre Wils auf Deutschlandradio

Treffender wäre m.E. ein Titel wie: "Über die Notwendigkeit einer offener Gesellschaft für den Demokratiefortbestand, d.h. des Wandels weg vom Wachstumsmantra. Wie Luxuskonsum von der Demokratiezersetzung und dem Fortbestand kolonialer Ungleichheiten ablenkt." Oder "Die Freundschaft mit dem Weniger wird uns gut tun." Aus der Sendung:

Nicht unbeträchtliche Teile der Weltbevölkerung leben in einer Welt des Überflusses. Wir, die Bewohner des europäischen Westens, gehören zweifelsohne dazu. Hyperkonsum ist zu einem Massenphänomen geworden. Luxus ist nicht länger das Privileg von Wenigen, sondern das Ideal Vieler. Kaum eine Utopie verzichtete auf das Versprechen eines Lebens im Überfluss. Der Natur wurde Kargheit attestiert, weshalb man zur Befreiung von ihrem strengen Regime aufmunterte.
Aber die Naturbasis dieser Existenzweise wird schmaler und schmaler. Unlängst verglich Hans Joachim Schellnhuber, der Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, die ökologische Lage der Welt mit einem leckgeschlagenen Schiff auf hoher See. "Natürlich gibt es auch neben der Havarie Probleme: Das Essen in der dritten Klasse ist miserabel, die Matrosen werden ausgebeutet, die Musikkapelle spielt deutsche Schlager, aber wenn das Schiff untergeht, ist all das irrelevant. Wenn wir den Klimawechsel nicht in den Griff bekommen, wenn wir das Schiff nicht über Wasser halten können, brauchen wir über Einkommensverteilung, Rassismus und guten Geschmack nicht mehr nachzudenken." Und man müsste wohl hinzufügen: "und über Luxus schon gar nicht mehr!" Dem Verlangen nach Luxus haftet heute - angesichts des prekären Zustands, in dem sich das gemeinsame Boot befindet - etwas Vermessenes an, so als seien wir mit Blindheit geschlagen. Ist es Ignoranz oder ein kindisches Beharren auf ein Mehr an vergnüglichem Spielzeug, das uns die Augen verschlossen hat? Wollen wir nicht sehen, dass Schlechtwetter im Kommen ist und ein sicherer Hafen zur Umrüstung und zur Gewährleistung der Weiterfahrt nicht in Sicht? Befindet sich der Luxusdampfer nicht schon längst in untiefem Wasser?
Das Resultat unseres Vernunftgebrauchs hat demnach etwas Zwiespältiges: Die Reflexion befreit uns zwar von Unmündigkeit und von einem Festhalten an fragwürdigen Traditionen, aber die Hoffnung war trügerisch, dass die Vernunft einen neuen festen Boden, neue Gewissheiten und Sicherheiten bereitstellen würde. '''Darüber hinaus ist eine Reflexion, die - wie unter modernen Bedingungen - niemals abreißt, außerordentlich anstrengend.''' Die Moderne scheint die von ihr ausgelöste Ausbreitung und Beschleunigung kritischen Nachdenkens jedenfalls nicht länger in ruhiges Fahrwasser lenken zu können. Reflexionsmüdigkeit breitet sich aus. '''Da bietet die Genussdevise Ablenkung und Entlastung. Wir suchen Trost bei den Dingen. Der Luxus stellt eine Einladung zum Verdrängen und Vergessen dar.''' Wer unter der Reflexivität und der von ihr ausgelösten Komplexität unserer Kultur ächzt, mag Zuflucht suchen in den gepolsterten Milieus eines dem Luxus der materiellen Dinge zugeneigten Daseins. '''Aber auch diese Zuflucht ist trügerisch''', denn wir befinden uns im Zeitalter der großen Zäsur. Als der Atmosphärenchemiker Paul Crutzen im Jahr 2000 den Begriff "Anthropozän" prägte, wollte er genau auf diese Zäsur hinweisen. Die Eingriffe des Menschen in die Ökosysteme haben eine erdgeschichtliche Dimension erreicht, meinte Crutzen. Sowohl was ihre Radikalität als auch ihre Irreversibilität und Totalität betrifft, hätten unsere Interventionen mittlerweile ein nie gesehenes Maß an Destruktion bewerkstelligt, weshalb nur noch ein schonungsloses Umdenken und ein wirkliches Andershandeln Rettung böte. '''Der Mensch ist offenbar zu einer Naturgewalt geworden [man müsste wohl differenzieren: Der "westliche, entwickelte" Mensch]''', die auf alle Bereiche des Lebens, nicht zuletzt auch auf die Kultur und die Politik, ihren unerbittlichen Einfluss ausübt. Damit ist nicht bloß darauf hingewiesen, dass die tiefe ökologische Krise die Politik vor enorme Aufgaben stellt. Das wäre noch eine Verharmlosung der Lage. Gemeint ist vielmehr, dass die Fundamente von Kultur und Politik - von demokratischer Politik - selber in Mitleidenschaft gezogen werden. '''Die Folgen des Anthropozäns setzen die Demokratie unter Druck.''' Die in Bedrängnis geratene, also die bedrängte Natur bedrängt ihrerseits die Demokratie.
Allerdings dürfen wir uns in diesem Zusammenhang nicht berauschen an dem Bild eines Naturidylls. Gebändigte Natur kann auch heißen: gequälte Natur und dazu zählt auch die gequälte Natur des Menschen. Es wäre geradezu leichtsinnig, nicht auf die bittere Geschichte des Bündnisses zwischen gebändigter Natur und demokratischem Aufbruch hinzuweisen. Die Entstehung von Demokratien, vor allem deren Stabilität, hängt nämlich nicht unwesentlich davon ab, dass eine Gesellschaft hinreichend mit Gütern versorgt ist. Ein gewisses Maß an Luxus ist unerlässlich für das Gedeihen demokratischer Projekte. Mangel, erst recht andauernder Mangel, bewirkt dagegen innergesellschaftlichen Stress. Er erzeugt einen hohen Pegel realer und potenzieller Konflikte. Unter bedrückenden Mangelbedingungen zivilisieren Menschen nur sehr schwer. Ohne ein Mindestmaß an Luxus kommt der Zivilisationsprozess nicht voran. Und ohne dieses Mindestmaß haben demokratische Prozesse, die auf das politische Gespräch, auf das Geben und Empfangen von Gründen zwischen Bürgern angewiesen sind, kaum eine Chance. Wer kämpft ums Überleben, führt keinen politischen Dialog.
An dieser Stelle aber muss die Frage gestellt werden, woher die Güter, die den zivilisierenden Luxus ermöglichen, eigentlich stammen. Woher beziehen und bezogen wir unseren Luxus? Achille Mbembe schreibt in seinem aufrüttelnden Buch "Politik der Feindschaft", die Prozesse der Demokratisierung beruhen auf "im Zuge der kolonialen Abenteuer eingeführter Formen der Bereicherung und des Konsums. Zur Befriedung der Sitten braucht man", "in der Tat nur Kolonien an sich zu bringen […] und immer mehr Erzeugnisse ferner Weltgegenden zu konsumieren. Der innere Frieden im Westen basierte also zu einem großen Teil auf Gewalt in der Ferne, auf grausamen Brandherden, die man entfachte, auf kriegerischen Fehden und anderen Massakern." Mbembes These lautet also, dass der zivile Frieden am Anfang der Demokratie einen Transfer von Luxusgütern voraussetzte, der den Charakter einer ökonomischen Plünderung besaß. Der Genuss des Luxus war nun demokratieförderlich. (...) Kolonialsystem und Sklaverei bilden also den bitteren Bodensatz der Demokratie. [gemeint sein dürfte "demokratischer Wohlstandsgesellschaften"]
Die Entstehung von Demokratien steht demnach in einem unmittelbaren Bezug zu der verheerenden Ausbeutung anderer Regionen, zur Ausbeutung und Knechtung anderer Menschen. Die Entlastung von einer uns bedrängenden Natur geschah mittels einer extremen Bedrängnis von Mensch und Natur anderswo. "Neben uns die Sintflut" lautet der Titel eines Buchs von Stephan Lessenich, das sich auf die Auslagerung oder Externalisierung der Folgekosten des westlichen Konsums in dessen Außenbezirke, in Länder der sogenannten Dritten Welt bezieht. Aber dieses hässliche Prinzip galt bereits zu Zeiten des Kolonialismus.
In Demokratien geht die Regierungsgewalt vom Volke aus, die Volkssouveränität beruht auf Prinzipien der Selbststeuerung und der Selbstkorrektur. Aber was passiert, wenn vom Volke nicht nur die Regierungsgewalt, sondern auch eine Art Naturgewalt ausgeht? Was geschieht, wenn der Gestaltungsspielraum unserer politischen Absichten immer mehr eingeengt wird durch von uns absichtslos enthemmte Naturgewalten? Was tun, wenn wir durch die Natur gesteuert und korrigiert werden und immer weniger durch uns selbst? Existiert überhaupt eine "Menschheit", an die wir appellieren können, damit wirkungsvoll gegengesteuert wird?
In der Tat lebt die Demokratie von Gestaltungsspielräumen und Handlungsalternativen. Schwindende Optionen oder das Gefühl, dass das Spektrum des Wählbaren sich dramatisch verengt, sind ein Gift für demokratische Politik. Denn diese, die demokratische Politik, setzt eine offene Zukunft voraus. Hier gilt ein verhältnismäßig einfaches Gesetz: Je offener die Zukunft, desto offener die Gesellschaft. Der Feind der offenen Gesellschaft, auf den Karl Popper unermüdlich hingewiesen hat, stellen gewiss die antiliberalen Ideologien totalitären Zuschnitts dar. Aber einer offenen Gesellschaft ebenso feindlich gesonnen ist eine sich schließende Zukunft. '''Die liberale Demokratie benötigt substanzielle Alternativen, einen gestaltbaren und selbst zu gestaltenden Wandel, frei wählbare Optionen. Wozu brauchen wir Demokratien, wenn es nichts zu wählen gäbe? Der Glaube an anhaltendes Wachstum, dieses Mantra der Selbstbeschwichtigung, wird jedenfalls nicht mehr von langer Dauer sein.'''
Ein Weniger an Dingen - ein geringerer "Luxus der Materialität" - ist für uns heute eine ungewohnte oder vielleicht sogar befremdliche Perspektive. Wir werden uns mit dieser Perspektive ökonomisch und politisch anfreunden müssen. Aber das Mehr an Dingen - dieser Luxus - ist ohnehin ein verbrannte Perspektive. Die Freundschaft mit dem Weniger wird uns gut tun.

Bild: “CONSUME.” by Jonathan Deamer lizensiert unter CC BY 2.0

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