Der Barmherzige Samariter
Wir hörten also als Elfjährige diese Bibelgeschichte und malten mit Filzstift Bilder in unsere Religionshefte. Sie zeigten den ausgeraubten und verwundeten Reisenden am Wegesrand und all die bösen, grimmig guckenden Menschen, die vorübergingen, sich abwandten, sich nicht kümmerten. Letztere malten wir eher schemenhaft in braun oder grau, Strichmännchen mit unschönen Gesichtern. Ganz anders wurde der Samariter dargestellt, der sich erbarmte und half, Held der Geschichte, größer und strahlender als die anderen, mit rotem Mantel und lockigem Haar. Er war der Gute.
Wenige Minuten später, zu Beginn der darauffolgenden Stunde, Erdkunde, würden wir genötigt werden, selbst die Rolle der Bösen zu übernehmen, die wegsahen und schwiegen, während eine:r unserer Mitschüler:innen ausgefragt wurde. Wie sollten wir das verstehen, was für ein Weltbild konnten wir uns daraus zusammenreimen?
Um das Ganze so richtig ad absurdum zu führen, könnte ich einmal ausmalen, wie die Religionsstunde der darauffolgenden Woche mit einem Test beginnt. Es muss ja überprüft werden, ob wir das im Lehrplan festgehaltene Lernziel erreicht haben, vielleicht in etwa: "Schülerinnen und Schüler sollen den ethischen Wert von Kooperation und Hilfsbereitschaft erkennen."
Blätter werden ausgeteilt, wir müssen an den Rand unserer Zweiertische rücken, um weiter auseinander zu sitzen und nicht abschreiben zu können. Und los geht es. "Erzähle in eigenen Worten die Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Worum geht es? Was lernst du aus dieser Geschichte?" Während ich eifrig schreibe, freudig darüber, in der Schule etwas darlegen zu dürfen, das meiner eigenen Wahrheit entspricht, nehme ich plötzlich wahr, wie meine Banknachbarin unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutscht. Sie hat außer ihrem Namen noch kein Wort auf ihrem Blatt stehen. Oh je. Was soll ich tun? Helfen natürlich! Habe ich doch eben hingeschrieben. Das einzig Vertretbare beim Anblick von Menschen in Not. Haben wir doch jetzt ganz offiziell gelernt. Hier ist ein Mensch in Not. Unmerklich - denn das Wissen ums Verbotene überdeckt mein Vertrauen in das als natürlich Empfundene - verringere ich den Abstand zwischen uns. Ich warte, bis es einigermaßen gut in meinen Text passt und schreibe dann das Wort HELFEN in Riesenbuchstaben über eine ganze Zeile. Meine Freundin Barbara sieht ja sehr schlecht, alles andere wäre sinnlos. Ich stupse sie unter dem Tisch an, schiebe mein Blatt in ihre Richtung und deute mit dem Finger auf das riesige Wort.
Angenommen, der Religionslehrer beobachtet mich in diesem Moment, wo ich genau das tue, was dem Lernziel entspricht: einer Freundin in Not beistehen. Was wird er tun? Wird er schmunzelnd über die Ordnungswidrigkeit hinwegsehen, weil er sich freut, dass ich verstanden und verinnerlicht habe, was er mir beibringen wollte? Wird er am nächsten Tag seinen Job kündigen, weil er es nicht länger mit seinem Gewissen vereinbaren kann, eine Ethik zu verkünden, die das System, für das und nach dessen Regeln er arbeitet, mit Füßen tritt? Oder er könnte sich vor die Klasse stellen, benennen, was er erlebt und Konsequenzen daraus ziehen: "Moment mal, ich erkenne gerade, warum diese eigentlich so selbstverständliche Geschichte vom Barmherzigen Samariter überhaupt erzählt werden muss. Weil wir ständig das Gegenteil leben und unseren Kindern das als normal vermitteln. Daran möchte ich mich keine Minute länger beteiligen. Lasst uns schnell dieses Klassenzimmer verlassen und uns einen Ort suchen, wo wir unter würdigeren Bedingungen lernen können!"
Die wahrscheinlichste Variante: Er gibt uns beiden eine Sechs, ein Ungenügend, weil es so in seiner Dienstanweisung steht. Wie absurd: Wir genügen nicht, weil wir das Lernziel zu sehr verkörpern - weil wir also ethische Prinzipien nicht nur als Theorie herunterbeten können, sondern tatsächlich danach handeln.
Ausschnitt aus: Wenn wir wieder wahrnehmen von Heike Pourian, CC-BY-NC-SA, der Textsatz wurde behutsam an die technischen Zwänge der Veröffentlichungsplattform angepasst
Beitragsbild von Franz Reinhardt, Public Domain