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Das Ende aller Tage

von Tom Maercker - erschienen in Stadtgespräche Ausgabe Nr. 96 (@stadtgespraeche)

Am 28. Juni 2019 begann Tomasz Kanicz auf der Heise-Verlag-Plattform TELEPOLIS seinen Artikel „Weltklima auf der Kippe“ mit den Worten: „Der Sommer 2019 könnte als die große Umbruchszeit in die Menschheitsgeschichte eingehen, in der das Überschreiten der Kipppunkte des globalen Klimasystems evident wurde - falls in den kommenden Dekaden überhaupt noch so etwas wie Geschichtswissenschaften betrieben werden sollte.“ Wer die Berichte des Weltklimarates (IPCC) gelegentlich verfolgt, hat mit diesem Satz begriffen, dass uns nur noch Monate bleiben, um mit drastischen Maßnahmen das Ende der menschlichen Zivilisation zu verhindern.

Eigentlich ist es ja die Aufgabe schillernder Sekten, „Wachturm“ schwenkend den Weltuntergang vorauszusagen. „Weltuntergang“ ist ohnehin so ein Unwort, dessen Verwendung wohl das gleiche Verständnis beim Gegenüber auslöst, wie die Nachricht, man hätte jetzt endlich Atlantis oder Beweise für die Übernahme der Erde durch Reptiloiden gefunden. Aber - und ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal sagen, geschweige denn erleben würde - der Weltuntergang ist nahe. Glauben Sie nicht? Sollten Sie aber. So drastisch und unprätentiös sieht es nach Datenlage leider aus. Und ein Irrtum ist - und ich hoffe inständig, ich irre mich - eher unwahrscheinlich.

Bedrohungsalltag

Dabei sind ja Bedrohungslagen nichts wirklich Neues mehr. Bei mir begann alles Anfang der siebziger Jahre in der dritten Klasse mit dem ideologisch heraufbeschworenen Atomkrieg, der mich zunächst zu Tode ängstigte, aber real eher eine metaphorische Gefahr darstellte, die wir im Verlauf der 1980er Jahre mit Hoffnung und Fatalismus ertrugen. Das „Gleichgewicht der Abschreckung“ der Politmaschinerien Ost und West barg dennoch die Möglichkeit eines unglücklichen Umstandes, derer wir uns erst nach Implodieren der Ost-West-Systeme wirklich bewusst wurden. So fragil der jahrzehntelange Betonfrieden auch immer gewesen sein mochte, er war in gewisser Weise immer berechenbar, weil menschengemacht. Also auch als Bedrohung abschaffbar, was ja dann auch geschah.

Parallel fingen die Wälder an, im sauren Regen zu sterben. Dazu kamen Ozonlöcher samt Klimakiller FCKW in Sprays und Kühlschränken. Verschiedene Ölkrisen und Umweltkatastrophen kamen und gingen. Aber auch diese Formen der Apokalypse ließen sich mit Campari, Becks und Yogitee zumindest hier in Mitteleuropa ganz passabel überstehen. Nur wenige Gesetzesänderungen später verloren sich die Gefahren, spätestens aber mit HIV und Ebola, BSE sowie Vogel- und Schweinegrippe. Selbst die Banken- und Finanzkrise nach dem inszenierten Fallenlassen von Leman Brothers oder die Flüchtlingswelle des Syrienkrieges irritieren uns zwar emotional und taugen gerade noch zur Ablenkung, scheinen aber unser Empfinden für richtige Gefahren eher abzustumpfen. Aus blühenden Landschaften wurde in den Medien jeweils das Ende der Zivilisation bis zur nächsten Hiobsbotschaft. Wir gewöhnen uns anscheinend an die medial heraufbeschworenen „großen Katastrophen“, weil wir im Alltag keine wirklichen Probleme haben.

Und so war es dann auch kein Wunder, dass wir uns einmal mehr bequem zurückgelehnt haben, als der FREITAG in Ausgabe 29/2017 den Artikel „Der Planet schlägt zurück“ veröffentlichte. David Wallace-Wells, ein amerikanischer Journalist, der u. a. für THE GUARDIAN schreibt, billigt uns hier einen Mangel an Vorstellungskraft zu und nimmt vorweg, was inzwischen häppchenweise öffentlich wird: „Ich verspreche Ihnen, dass es schlimmer ist, als Sie denken. Wenn Ihre Angst vor dem Klimawandel von der Sorge um steigende Meeresspiegel bestimmt wird, kratzen Sie gerade an der Oberfläche dessen, was an schrecklichen Dingen bereits im Leben eines heutigen Teenagers möglich ist ...“

Zu dieser Zeit sprach man noch vom möglichen Klimawandel. Und wir hollywood-dystopie-gestählte Konsumenten haben gar nicht verstanden, welches Szenario uns da aufgezeigt wurde, hielten es eher für Alarmismus eines Besessenen, weil diese Informationen nicht in unserem Alltag vorkamen. Das Szenario einer unbewohnbaren 50°C-Region in den Subtropen, überschwemmter Küstenstädte, Extremwetterereignisse und mit Millionen von Klimaflüchtlingen bereits für 2050 wird immer wahrscheinlicher, wenn nicht sofort dramatische Maßnahmen zur CO2-Reduzierung ergriffen werden. Dazu gibt es inzwischen sogar Berechnungen, wie viel Tonnen Kohlendioxid wir noch verbrauchen dürfen, um die globale Erwärmung zumindest zu begrenzen.

Globale Erwärmung: Die Berichte des Weltklimarates

Die globale Erwärmung von zur Zeit 1,1°C seit der vorindustriellen Zeit um 1750 wird von keinem ernstzunehmenden Wissenschaftler der Welt mehr bestritten. Es gab zwar immer mal wieder regionale Warm- und Kaltzeiten, aber niemals so eine globale Erwärmung, wie sie Wissenschaftler der Universität Bern nachgewiesen haben. Der Weltklimarat (IPCC) veröffentlicht seit 1990 seine Prognosen und Handlungsempfehlungen zum Klimawandel und warnt Politik und Gesellschaft seit nunmehr fast dreißig Jahren vor den unberechenbaren Auswirkungen eines Klimawandels für unseren Planeten. Die zwanzig wärmsten Jahre seit Beginn der systematischen Wetteraufzeíchnung 1880 wurden in den vergangenen 22 Jahren verzeichnet. Die Jahre 2015 bis 2018 waren die wärmsten vier überhaupt seit 115.000 Jahren.
Und die Erwärmung nimmt weiter dramatisch schnell zu. Es vergeht kaum eine Woche, in der wir nicht von einer neuen Dramatik auch hier in MV überrascht werden: Brennende Wälder, Rekordtemperaturen, Dürren, Wasserknappheit, sinkende Grundwasserspiegel und erste Vibrionentote. Weltweit sieht das noch viel dramatischer aus: Die Arktiswälder brennen, die Gletscher schmelzen in Rekordzeit, Temperaturrekorde und Extremwetterereignisse häufen sich. Viele Wissenschaftler bezeichnen die IPCC-Berichte als viel zu konservativ und begründen das damit, dass die Berichte eine Konsensentscheidung sehr vieler Wissenschaftler sind, wodurch nur die absolut sichersten Fakten berücksichtigt werden. Von Medien und Politik gelesen wird allerdings selten der Bericht selbst, sondern meistens nur die Zusammenfassung, die allerdings bereits von politischen Entscheidungsträgern mitformuliert wird. Wir können also davon ausgehen, dass die Zusammenfassung in vielen Aussagen äußerst zurückhaltend formuliert ist, um einschneidende Maßnahmen für Wirtschaft und Gesellschaft zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern.

Die reale Lage: Wir nähern uns den Kipppunkten

Einzelne Wissenschaftler geben uns nur noch Monate, in denen unser Handeln überhaupt Auswirkungen noch auf die sich mehr und mehr verselbständigenden Wetter- und Klimaveränderungen haben wird. Sind die „Umkipppunkte“ erst einmal erreicht, kommt es zu selbstverstärkenden Effekten, die unabhängig von menschlichen Einflüssen einen Klimakollaps auslösen. Drei Effekte sind hier maßgebend:

  1. Das immer regenärmere Wetter verursachten Waldbrände mit CO2-Emissionen, die ihrerseits zu immer wärmerem Wetter führen.
  2. Einen ähnlichen Effekt hat das abschmelzende Poleis. Normalerweise reflektiert es 95% der Sonneneinstrahlung. Verringert sich allerdings die Eisfläche durch Abschmelzen, werden nur ca. 5% von der Wasseroberfläche reflektiert und die Erde heizt sich weiter auf und lässt den Effekt eskalieren.
  3. Am problematischsten sind allerdings die Permafrostböden im Norden Kanadas, Grönlands, Alaskas und Russlands, weil in ihnen ca. viermal so viel klimaschädliche Gase (Methan und Kohlendioxid) gebunden sind, wie die gesamte Menschheit bislang in ihrer Geschichte produziert hat. Und wie es aussieht, hat das Auftauen, das vom Weltklimarat erst für 2090 erwartet wurde, bereits begonnen ...

Wir sehen bereits jetzt die konkreten Auswirkungen der Klimaveränderungen in vielen Teilen der Welt: Hitzerekorde, Dürren und Artensterben. Wenn die prognostizierten Meeresspiegelanstiege und weitere Extremwetterereignisse eintreten, werden neben den erwarteten Schäden mittelfristig noch Millionen von Klimaflüchtlingen, kollabierende Märkte und ein unkontrollierbares Artensterben hinzukommen.

Tell the Truth . Act now . Beyond Politics

Unter Wikipedia findet man zu EXTINCTION REBELLION (engl. für „Rebellion gegen das Aussterben“; kurz: XR) sinngemäß: XR wurde 2018 in London gegründet und versteht sich als weltweite soziale Bewegung, die sich mit Mitteln des zivilen Ungehorsams gegen das Massenaussterben von Tieren und Pflanzen und das mögliche Aussterben der Menschheit als Folge der Klimakatastrophe und der Vernichtung von Lebensraum einsetzt. Im April 2019 war sie in 49 Ländern auf sechs Kontinenten mit 331 Ortsgruppen vertreten. Die Gründung von XR Rostock erfolgt im Juni 2019 und „Sagt die Wahrheit“ ist die erste von drei Forderungen. Die Frage ist nur, wer soll wem was sagen?

In den parlamentarischen Demokratien des Westens haben wir den Ort für soziale Aushandlungsprozesse in die Politik verlagert. Die Politiker*innen erkennen im Idealfall soziale, ökologische, wirtschaftliche und weitere Brennpunktthemen und reagieren darauf adäquat mit gesetzlichen Vorgaben. Was aber macht man, wenn eine Regierung ein Thema nicht zur Kenntnis nehmen oder gar handeln will, wie es aktuell der Fall ist? - Hier kommt XR ins Spiel. Neben der Wahrheit über den tatsächlichen Umfang der drohenden Klimakatastrophe wird gefordert, dass sofort sinnvolle und angemessene Maßnahmen ergriffen werden sollen. Und da es Anlass genug zu der Annahme gibt, dass die bestehenden Regierungen allein keine angemessene Lösung finden wollen, wird an die Urform der griechischen Demokratie erinnert - eine Mitbestimmung auf Basis des Prinzips der Aleatorischen Demokratie (Demarchie bzw. „Politik per Los“).

Neben diesen Forderungen gelten zehn Prinzipien und Werte, auf deren Basis die XR-Forderungen durchgesetzt werden sollen. Gewaltfrei, mit einem Rückhalt von mindestens 3,5% der Bevölkerung, mit einer ausgeprägten Kultur der Regeneration, reflektierend, lernend, mit allen Menschen, so wie sie sind, ohne Hierarchien, dezentral, selbstbestimmt und ohne Schuldzuweisungen.

Was tun?

Leider ist die politische Situation derzeit überall kipplig, die wirtschaftliche problematisch und die soziale gespalten. Der als flexibler Heilsbringer gepriesene Kapitalismus erweist sich leider nicht als Rettung, sondern als das eigentliche Problem. Bislang waren die Bedrohungen menschengemacht und konnten daher auch jederzeit beendet werden. Oder man ist eben ausgewandert. Obwohl sich die ersten Superreichen angesichts der von ihnen mitverschuldeten Klimakrise jetzt vor allem in Neuseeland riesige Farmen gekauft haben, gibt es keinen Fluchtpunkt mehr, den eine globale Klimakatastrophe auslassen würde. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte stehen wir vor einer Situation, die wir möglicherweise nicht mehr beeinflussen können. Zumindest eines können wir tun: Unsere Regierungen dazu bringen, sich dem Problem zu stellen, statt es zu ignorieren. Ab dem 7. Oktober werden fünf Städte weltweit gewaltfrei blockiert, um den Forderungen von XR Nachdruck zu verleihen: London, Paris, Wien, Amsterdam, Berlin und New York. Sollten wir es nicht schaffen, unsere Regierungen zu sofortigem Handeln zu bewegen, werden unsere Kinder wahrscheinlich das Ende aller Tage noch erleben. ¬

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Weitere Informationen:

Deutschlandseite von XR:
www.extinctionrebellion.de

Rostocker XR-Seite:
www.stadtgestalten.org/xr

Zum Nachlesen:
www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-planet-schlaegt-zurueck
www.utopia.de/klimawandel-prognose-2050-142678/
www.heise.de/amp/tp/features/Weltklima-auf-der-Kippe-4456028.html

Beitragsbild von Leonhard Lenz - Own work, CC BY-SA 4.0

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