Don Quijote, die Insel und das Goldene Zeitalter
Einige Erfahrungen mit, und Fragen zu "Open Source"
von Joachim Heintz, Keynote auf der 4. Internationalen Csound Konferenz in Montevideo, 29. September 2017
Zuerst möchte ich mich bei Luis Jure bedanken, unserem Gastgeber. Für all die Arbeit, die er sich gemacht hat, uns einzuladen, und dass er mir die Gelegenheit gibt, vor euch, mit euch über ein Thema nachzudenken, das mich immer wieder sehr beschäftigt: Was tun wir eigentlich, wenn wir „Open Source“ oder „Freie“ Software benutzen und entwickeln? In welchen Traditionen stehen wir?
1 Eine Geschichte
Después que don Quijote hubo bien satisfecho su estómago, tomó un puño de bellotas en la mano, y, mirándolas atentamente, soltó la voz a semejantes razones: — Dichosa edad y siglos dichosos aquéllos a quien los antiguos pusieron nombre de dorados, y no porque en ellos el oro, que en esta nuestra edad de hierro tanto se estima, se alcanzase en aquella venturosa sin fatiga alguna, sino porque entonces los que en ella vivían ignoraban estas dos palabras de tuyo y mío. Eran en aquella santa edad todas las cosas comunes; a nadie le era necesario, para alcanzar su ordinario sustento, tomar otro trabajo que alzar la mano y alcanzarle de las robustas encinas, que liberalmente les estaban convidando con su dulce y sazonado fruto. Las claras fuentes y corrientes ríos, en magnífica abundancia, sabrosas y transparentes aguas les ofrecían. En las quiebras de las peñas y en lo hueco de los árboles formaban su república las solícitas y discretas abejas, ofreciendo a cualquiera mano, sin interés alguno, la fértil cosecha de su dulcísimo trabajo. 1
Nachdem Don Quijote seinen Magen gehörig befriedigt hatte, nahm er eine Handvoll Eicheln auf, betrachtete sie nachdenklich und erhob die Stimme zu folgender Rede: „Glückliche Jahrhunderte, glückliches Zeitalter, dem die Alten den Namen des Goldenen beilegten, und nicht deshalb, weil das Gold, das in unserem eisernen Zeitalter so hoch geschätzt wird, in jenem beglückteren ohne Mühe zu erlangen gewesen wäre, sondern weil, die damals lebten, die beiden Worte dein und mein nicht kannten. In jenem Zeitalter der Unschuld waren alle Dinge gemeinsam. Keiner bedurfte, um seinen täglichen Unterhalt zu gewinnen, einer andern Mühsal, als die Hand in die Höhe zu strecken, um ihn von den mächtigen Eichen herabzuholen, die freigiebig jeden zu ihren süßen gereiften Früchten einluden. Klare Quellen und rieselnde Bäche boten ihnen in herrlicher Fülle ihr wohlschmeckendes, kristallhelles Wasser. In den Spalten der Felsen, in den Höhlungen der Bäume hatten die sorgsamen klugen Bienen ihr Gemeinwesen eingerichtet und boten ohne Eigennutz einer jeglichen Hand die reiche Ernte ihrer köstlich süßen Arbeit.“ 2
Der Magen muss befriedigt sein. Dann kann man über einen gesellschaftlichen Zustand des Glücks reden, an den wir uns zu erinnern scheinen, in Mythen wie dem jüdisch-christlich-islamischen Paradies oder dem goldenen Zeitalter des Ovid. Über einen Zustand, in dem man sich nicht mühen muss, um den täglichen Unterhalt zu gewährleisten. Es ist alles da, man greift nur zu. Klare offene Quellen, und schau mal auf die Bienen und ihr Gemeinwesen, ihre Organisation von Gesellschaft: süße Arbeit.
Der hier spricht ist kein Politiker und kein Wirtschaftswissenschaftler. Er ist ein Narr und Schwärmer, der sich mit einem offensichtlich falschen Wirklichkeitskonzept beständig den Kopf stößt. Er spinnt, der Verrückte, der auf seinem verhungerten Klepper daherkommt und die einfachsten Dinge für etwas anderes hält als sie für den nüchternen Blick, den gewohnten Blick, den allgemeinen Blick sind: Windmühlen sind ihm Riesen, die Barbierschüssel ist ihm der Helm des Mambrin, und verurteilte Galeerensklaven sind ihm Unschuldige. Er hat nur seine Flausen im Kopf, er lebt ohne einige Grenzen, die doch zentral sind für unser Funktionieren. Die Grenze zwischen einer Phantasie und der Wirklichkeit existiert für ihn nicht, selbst wenn er beim Aufprall auf die Wirklichkeit ein paar Backenzähne verliert. Die Grenze zwischen der Welt der Arbeit, in der man vernünftig und berechenbar zu sein hat, und der Welt der „Freizeit“ oder des „Hobbys“, in der man auch ein wenig verrückt sein darf, träumen, spielen, Musik machen oder ausflippen, oder Bücher lesen als Ausflug in eine andere Welt, für eine Zeit, zur Regeneration — auch diese Grenze kennt er nicht; vielleicht weil er als heruntergekommener Adliger gar keinen Begriff von einer Arbeit hat, der eine freie Zeit entgegengesetzt wird. Er geht in Büchern umher als wären sie Wirklichkeit, er geht in der Wirklichkeit umher als wäre sie ein Buch. Und mit ihm geht Sancho Pansa, der den Leib vertritt bei so viel Geistgespinsten, und der nicht zuletzt mitgekommen ist, weil ihm eine Insel versprochen wurde von Don Quijote:
Du musst wissen, Freund Sancho, dass es ein vielfach betätigter Brauch der alten fahrenden Ritter war, ihre Knappen zu Statthaltern der Inseln oder Königreiche zu machen, die sie gewannen, und ich habe mir vorgenommen, dass durch mich ein so preiswürdiges Herkommen nicht in Abgang geraten soll; vielmehr gedenke ich in demselben noch viel weiter zu gehen. 3
2 Die Insel
Er ist wirklich weiter gegangen in diesem Brauch. Wir sind hier. Wir sind hier auf einer Insel. Wir sind hier auf einer Insel, die ohne Zweifel Don Quijote einmal Sancho Pansa vermacht haben muss.
Open Source ist eine Insel. Was benutzt du — Ableton Live? Max Msp? Was, Csound? Das geht?
Als ich einmal mit einer Instrumentalistin zusammen ein Stück für Live-Elektronik erarbeitete, fragte sie mich nach dem Programm, was ich da benutze. Ich sagte, es ist ein Programm, das nicht so viele kennen. Ich sagte, es ist mal am MIT entstanden und wird von eine Gruppe von Leuten entwickelt, ohne Geld. Ich sagte, es geht um Teilen und Zusammenarbeiten.
Und das funktioniert?!? — fragte sie.
Wir sind auf einer Insel, die für viele noch nicht einmal auf der Landkarte verzeichnet ist. Ist mit uns das Goldene Zeitalter wieder angebrochen? Sind wir die Bienen, die köstliche süße Arbeit vollbringen in ihrem besonderen Gemeinwesen?
3 Bienen und Menschen
Bienen sind Tiere, die sich vor etwa hundert Millionen Jahren zusammen mit den Blütenpflanzen entwickelten. Sie bevölkern die Erde in etwa zwanzig tausend Arten. Die gesamte Population lässt sich kaum schätzen. Allein eine Art, die westliche Honigbiene weist schon in Deutschland etwa fünfzig Milliarden Individuen auf.
Menschen sind Tiere, die sich vor etwa fünf Millionen Jahren von den übrigen Affen getrennt haben. Sie entwickelten sich zunächst in verschiedenen Arten, bis vor etwa fünfzig tausen Jahren der Homo Sapiens sich ausbreitete und allein übrig blieb. Er bevölkert heute alle Teile der Erde mit etwa acht Milliarden Individuen.
Menschen zeichnen sich durch den exzessiven Einsatz von Werkzeugen aus. Sie benutzten Werkzeuge, um Beute zu erlegen und große Raubtiere zu beseitigen. Vor etwa zehn tausend Jahren begannen sie, die Erde planmäßig zu bearbeiten. Sie veränderten Pflanzen und Tiere nach ihren Bedürfnissen und lebten in sehr unterschiedlichen Formen von gesellschaftlicher Organisation. Sie benutzten Werkzeuge, um Häuser zu bauen, um Tiere zu fangen, um die Erde zu bebauen oder um andere Menschen zu töten.
Der Computer ist ein spezielles Werkzeug. Ein sozusagen leeres Werkzeug, das durch Programmierung, also das Beschreiben von Speicherzellen, gefüllt wird. Durch diesen Vorgang, unter Hinzufügung der entsprechenden Peripherieeinheiten für Input und Output (Sensoren und Motoren, Mikrofone und Lautsprecher) kann der Computer zu jedem Ding werden. So verdrängt er die ihm vorausgehenden Geräte. Mit einer Tastatur als Eingabe ausgestattet, ersetzt er die Schreibmaschine. Mit einem Digital-Analog-Wandler und einer Buchse für ein Audiokabel ausgestattet, ersetzt er den Plattenspieler. Mit einer Programmiersprache wie Csound ausgestattet ersetzt er Oszillatoren, Resonatoren, Filter, Klanggeneratoren.
Es ist die dem Computer eingeschriebene Allgemeinheit, die Allgemeines sichtbar werden lässt. Das komplexeste Werkzeug der Menschheitsgeschichte ist gleichzeitig so leer, dass Einfaches und Grundlegendes an ihm sichtbar wird. Eine dieser Fragen ist: Wie leben wir zusammen, wie arbeiten wir zusammen? Und wie kamen wir eigentlich auf diese Insel?
4 Wie es anfing
Bei mir war es so. Ich lernte Csound Mitte der neunziger Jahre kennen, im Rahmen meines Kompositionsstudiums. Zunächst mal verstand ich gar nichts. „p4“ — was ist das bitte sehr? Aber ich war, vielleicht durch mein vorausgehendes Studium der Literatur, ganz fasziniert von dieser merkwürdigen Sprache, von diesen Worten, deren Bedeutung ich nicht verstand: soundin, endin, oscil und filnam. Ja, ein Manual, eine Art Worterklärungslexikon gab es, sogar „kanonisch“ hieß es schon, wenn ich mich recht entsinne — aber wie kann man ein Lexikon schreiben mit Begriffen, die ich auch nicht kenne? Was bitte schön ist Initialisierung, und was Performance — oder wird mit diesem Opcode Theatermusik gemacht? Nein, es steht bei allen so. Also goto skipinit ...
Aber faszinierend ist das schon, dass man mit zwei Zeilen Code einen Klang von der Festplatte abspielen kann. Und umsonst ist es auch, wie praktisch. Und so lernte ich, mit Ausetzern und zentimeterweise, Csound, und setzte es immer mal wieder, und letztlich immer mehr, ein. Vor allem für das, was früher Tonbandmusik hieß: auskomponierte Stücke einer festen Dauer, mit oder ohne Instrumente. Ich schrieb eine Partitur, und übertrug diese Partitur dann ziemlich direkt in das, was auch bei Csound Partitur (score) heisst. Das ist die Stärke von Csound4, sagten meine Lehrer; wenn du Live-Elektronik machen willst, musst du Max5 benutzen.
Max sah ja auch besser aus und war viel leichter zu lernen, aber je länger ich Csound benutzte und je besser ich es verstand, desto mehr mochte ich es. Am Anfang eine Qual, aber dann machte das Lernen richtig Spaß. Und irgendwann ging ich auf die Mailingliste, und las mit, als Zuschauer, und lernte sehr viel von dem, was die anderen so schrieben. Und ich mochte den Grundton dieser Liste, ich war auch kurze Zeit auf anderen Listen, aber hier blieb ich. Ich glaube, es hat mit dem zu tun, was am Ersten jeden Monats unser Admin schreibt:
This is the monthly reminder. The Csound list welcomes posts from people with ALL levels of skill, from the newest newbie to the most serious hacker or established composer. The subject and tenor of the posts varies dramatically depending on what the current concerns are. Newbies are sometimes afraid to post because they read discussions about the incomprehensible deep inner workings, and all they want to know is how to get a sound to come out of their computer, or advice on how to get mobile sounds. Rest assured that your question will be answered quickly, and (usually) in a helpful and courteous manner. We've all been there. Please post. 6
5 Der Unterschied
Aber ich war immer noch Zuschauer. Ich lernte sehr viel über Dinge, über die ich vorher nichts wusste, und ich lernte viele Leute kennen, über ihre Emails, wie sie sich äußerten, wie sie reagierten. Inzwischen unterrichtete ich, und unterrichtete besonders gern Csound, und eines Tages kam ich im Gespräch mit einem Studenten auf das Erzeugen von einzelnen Impulsen, und Impulsfolgen. Dafür gibt es in Csound den Opcode mpulse, und dessen Syntax las sich laut Handbuch so:
ares mpulse kamp, kfreq [, ioffset]
Inzwischen wusste ich, dass ares nichts mit dem griechischen Gott des Krieges zu tun hat, sondern für ein Resultat (res) steht, das in Form eines Audiosignals (a...) erscheint. Und natürlich: Amplitude ist ungefähr dasselbe wie Lautstärke, und die Frequenz bestimmt, wie oft pro Sekunde die Impulse kommen.
Mein Student und ich schauten uns die Erklärung an, und da wir eine Impulsfolge wollten, schraubten wir an dem kfreq genannten Parameter herum. Wenn wir mit 1 beginnen, ist es einmal pro Sekunde, klar. Und wenn es schneller werden soll, muss die Zahl größer werden: 2, 3, und so weiter. Klar.
Es stimmte aber nicht. Wir vergrößerten die kfreq genannte Zahl, aber es wurde langsamer statt schneller. Ein Fehler! Ein Fehler im Manual!
Mein Student lachte und sagte: Nun weiss ich, dass ich Csound nie benutzen werde. Ich lachte nicht und dachte: Soll ichs ihnen sagen?
„Ihnen“, „sie“ — das waren die großen fernen Männer die das Programm machten und das Manual schrieben. Vielleicht hatte ich ja Unrecht und man würde mich auslachen. Oder — nicht viel besser — einfach ignorieren, gar nicht beachten.
Das war so schwer! Ich weiss, dass es Leute gibt, denen es leichter fällt und die ihrerseits lachen über solche Ängste. Aber ich weiss auch, nicht zuletzt durch meine Studenten und Studentinnen, dass es keine untypischen Gefühle sind, die ich damals, vor meiner ersten Mail an die Liste, hatte.
Vielleicht hat letzten Endes eine moralische Instanz den Ausschlag gegeben.
Ich dachte: Nun benutze ich Csound schon jahrelang, einfach so. Sollte ich nicht auch mal was zurückgeben?
Oder ich wollte schlicht nicht unter dieses Urteil von Don Quijote fallen:
„Es sind Riesen, und wenn du Furcht hast, mach dich fort von hier und verrichte dein Gebet.“ 7
Also keine Angst, oder trotz Angst, geschrieben, oftmals durchgesehen, endlich doch abgeschickt, und — die Mail wurde gelesen, und Andrés Cabrera antwortete, der damalige Verantwortliche für das Manual, und sagte: stimmt, und: ich ändere das.
Wow!
Es ging.
6 Software.Kommunismus
War das nun der Eintritt ins Paradies, hatte mich Don Quijote tatsächlich in unserer Software-Geist-Phantasiewelt ins goldene Zeitalter zurückgebracht, wo man die Worte mein und dein nicht kennt und alle Dinge gemeinsam sind? War ich im Software-Kommunismus angekommen?
[Einspielung eines Ausschnitts aus dem Film Revolution OS. Eric Steven Raymond auf die Frage, ob Open Source etwas mit Kommunismus zu tun hat: Aber nein, das macht mich wirklich wütend wenn Leute so etwas sagen!] 8
Vielleicht ist es ein Glück, dass die Freie Software Bewegung in den USA entstanden ist. So müssen wir nicht über den Begriff des Kommunismus diskutieren. Wir müssen nicht über Marx diskutieren, der den Kommunismus als Zustand bezeichnete, in dem die frei miteinander verbundenen Produzenten ihren Stoffwechsel mit der Natur vernünftig regeln, um dann das wahre Reich der Freiheit zu gestalten, das darin besteht, etwas um seiner welbst willen zu tun. 9
Wir müssen nicht über Thomas Morus diskutieren, in dessen Utopia es heisst: Dort, wo alle alles nach dem Wert des Geldes messen, kann es keine Gerechtigkeit und kein Glück geben. 10
Wir müssen nicht über den Evangelisten Lukas diskutieren, in dessen Apostelgeschichte es über das Zusammenleben der Urgemeinde heisst: Alle Gläubigen lebten zusammen und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften ihr Eigentum und verteilten Mittel, wenn einer in Not war. Sie aßen Brot in allen Häusern und freuten sich über die Speisen. 11
Es ist ein schlauer Trick, nicht über das Gemeineigentum zu reden, sondern über die Freiheit. Was das für Zeit spart! Und erst recht, wenn man nicht nur über die Freiheit redet, sondern sie sich nimmt!
Aber was ist Freiheit?
7 Zweimal vier Freiheiten
Für den äußeren Rahmen, sozusagen die Verfassung unseres Inselreiches, ist es klar. Es gibt die vier Freiheiten: Ein Programm auszuführen, den Quelltext lesen zu können, den Quelltext verändern zu können, und das Programm zu verbreiten. Das weiss ja jeder, und jeder weiss, dass diese Verfassung in einem Anfall von Übermut in den Worten der umgebenden, nicht insularen, also proprietären Welt, in eine rechtsgültige Form gegossen wurde, wo sie nun schon einige Jahrzehnte erfolgreich überdauert.
Aber diese vier Freiheiten geben nur den äußeren Rahmen. Ich möchte stattdessen von vier anderen Freiheiten sprechen, die ich in unserer Gemeinschaft erfahren habe:
Die Freiheit zu kommen und zu gehen.
Die Freiheit zu machen.
Die Freiheit zusammen zu arbeiten.
Die Freiheit zu teilen.
Ich möchte schildern, wie ich diese Freiheiten erfahren habe, und ich möchte versuchen herauszubekommen, warum sie mir so wichtig geworden sind und was sie vom umgebenden Meer unterscheidet.
8 Freiheit: Kommen und Gehen
Wir kommen und gehen. Niemand von uns hat einen Vertrag unterzeichnet, der Csound Community für ein, zwei oder fünf Jahre anzugehören. Wir kommen einfach, wir machen etwas, und irgendwann gehen wir wieder. Wir machen etwas am Code, an der Dokumentation, an Beispielen, an Frontends. Manche bleiben kurz, manche bleiben lang, manche bleiben sehr lang. Auf einer guten Mischung beruht die Lebendigkeit des Projekts. Gibt es zu viele Wechsel, fehlt die Konstanz. Gibt es zu wenig Wechsel, fehlt die Erneuerung.
Das Kommen, der Eintritt, geschieht vielleicht bei vielen in einer ähnlichen Weise, wie ich es von mir erzählt habe. Aber auch nach diesem Eintritt gibt es wohl für die meisten von uns immer wieder kleine Bewegungen des Kommens und Gehens. Es gibt Zeiten, in denen wir intensiv für und mit Csound arbeiten, und es gibt Zeiten, in denen wir nichts tun und sozusagen für eine Zeit gegangen sind. Das Projekt ermöglicht das.
Diese voraussetzungslose Freiheit steht quer zu anderen Verhältnissen, in denen wir zusammenarbeiten. Vor allem natürlich zu dem „Broterwerb“, bei dem wir uns durch Unterschrift dazu verpflichten, diese und jene Aufgaben in dieser und jener Zeit zu erfüllen. Es geht um Pflicht, Dienst, Erwartung, Tausch: Du gibst mir deine Arbeit, ich gebe dir Geld.
Hier auf unserer Insel gibt es diese äußere Verpflichtung nicht, und gerade dadurch bildet sich eine andere Art von Verantwortlichkeit. Niemand zwingt mich, ich entscheide mich selbst, dies oder das zu übernehmen, für eine Zeit, ab jetzt. Menno wollte zu jedem Opcode ein funktionierendes und möglichst musikalisches Beispiel sehen — also hat er es gemacht. Viele von uns wollten ein aktuelles Online-Lehrbuch sehen — also haben wir das Csound Floss Manual gemacht. 12 Andrés, Rory und Steven wollten moderne Frontends sehen — also haben sie CsoundQt, Cabbage und Blue gemacht.
Es ist eine persönliche Verantwortlichkeit, für eine Zeit.
9 Freiheit: Machen
Für eine Zeitlang da sein heisst: etwas machen. Wir haben in diesem Projekt die Freiheit, etwas zu machen. Vielen Dinge warten, die gern gemacht sein wollen, oder die wir als eigenes Gewächs beisteuern. Ob es sich nun um das Testen einer neuen Version, das Veröffentlichen von Beispielen oder das Schreiben neuer Opcodes handelt — Freiheit ist vor allem auch die Freiheit, sich hier auf dieser Insel um ein Stückchen Land zu kümmern. Wir sind eine Gemeinschaft von Machern, und unser Produkt ist etwas, mit dem wir wiederum machen können: Musik machen können.
Wie verhält sich nun diese Struktur, wie verhält sich dieses Zusammenkommen im Geist des „jeder macht etwas“ zu den Strukturen, die wir sonst in unseren Gesellschaften erleben? Die Freiheit zu kommen und zu gehen, sagte ich, steht quer zu dem Zwang des Vertrages. Und die Freiheit zu machen, scheint mir, steht quer dazu, dass wir uns in unserem Leben vor allem als Konsumenten und als Zuschauer erleben, die eine merkwürdige Befriedigung darin erleben, sich regieren zu lassen und dann darüber zu klagen.
Als Konsumenten legen wir das Geld, das wir durch unsere Verpflichtung zum Dienen bekommen haben, wieder auf den Tisch und tauschen es gegen ein Produkt, das andere gemacht haben und von dem wir durch unsere Bezahlung gefälligst erwarten dürfen, dass es gut funktioniert, also uns nun dient.
Wir konsumieren auch, ganz überwiegend, Politik; wir lassen andere für uns machen, wir „geben unsere Stimme ab“, und dann schauen wir uns das mal an, was die da machen. Und mit Politik meine ich nicht nur die Ebene des Staats. Ich wurde einmal zum Vorsitzenden eines Vereins gewählt. Ich verstand diesen Vorsitz vor allem als ein Lenken und Zusammenführen von Aktivitäten und Ideen, die von den Mitgliedern kamen. Aber irgendwann merkte ich, dass die meisten Mitglieder das ganz anders verstanden. Sie sagten: Wir haben euch doch gewählt — nun macht mal! Ihr seid doch unsere Regierung!
Ich fühle mich sehr wohl in einer Gemeinschaft, in der jeder einfach irgend etwas macht, und ich kann nicht mehr umgehen mit Gemeinschaften, in denen Leute vor allem konsumieren und zuschauen wollen. Daran ist Csound schuld!
10 Freiheit: Zusammen arbeiten
Als wir das Floss Manual planten, waren wir eine Gruppe von Leuten. Wir waren uns einig, dass es schon längst überfällig ist, dass solch ein Online-Lehrbuch entsteht, an dem viele ihr Wissen zusammen tragen, anstatt dass jeder mal hier und da ein Tutorium schreibt. Und wir einigten uns auf eine Gliederung, wir teilten Kapitel auf, und wir verabredeten einen Zeitpunkt, bis zu dem wir unsere Kapitel fertighaben wollten. Ds Schreiben geschah online in einer Art Wiki, so dass jeder sehen, kommentieren und verbessern konnte, was die anderen gemacht hatten. Es sollte doch anregend sein zu sehen, dass die Kollegen schon was geschrieben haben?
Nein. Es klappte nicht. Es gab zu dem Zeitpunkt, den wir verabredet hatten, vielleicht ein Viertel oder ein Fünftel des Textes. Viel zu wenig für eine Veröffentlichung.
Also: Sterben lassen, oder nach einer anderen Form suchen. In diesem Fall war die andere Form, dass Alex, Iain und ich uns für eine Woche trafen und gemeinsam schrieben. Aber ich habe diese Suche nach der richtigen Form der Zusammenarbeit auch sonst oft im Csound Projekt erlebt, als etwas, was über das Werden oder Nicht Werden von Dingen entscheidet. Typisch wiederum im Floss Manual dieser Vorgang:
1.Ich schreibe an die Liste: Hey Leute, es wäre super wenn jemand dieses Kapitel schreiben (überarbeiten) könnte. Bitte meldet euch doch bei mir.
Reaktion: Null.
2.Ich schreibe jemanden persönlich an: Hast du vielleicht Lust, dieses Kapitel zu schreiben (zu überarbeiten)?
Reaktion: Alle antworten. Mehr als die Hälfte sagt: ja gern (und macht es auch); die anderen sagen meist: ich würde gern aber ich schaffe es nicht.
Wir sind eine Gemeinschaft von Individualisten. Wir sind hier, weil wir keine Lust haben, uns von Firmen vorschreiben zu lassen, was wir zu benutzen haben. Und wir sind hier in absoluter Freiheit. Niemand kann uns zu irgendetwas zwingen, auch nicht moralisch.
Es ist Energie da, wir wollen ja etwas zusammen machen, wir freuen uns, wenn es vorangeht und die Website wieder etwas besser aussieht oder die Installation für Anfänger einfacher ist, aber wir müssen nach Formen suchen, in denen die Energie fließen kann und die Dinge ihren Lauf nehmen.
Ich habe viel gelernt an diesem Punkt von der Csound Community, auch für andere Zusammenhänge. Ich habe gelernt, mehr nach Formen zu suchen, die etwas ermöglichen, anstatt einfallslos nur eines zu versuchen und dann in Klagen oder Anklagen überzugehen, wenn es nicht funktioniert.
11 Freiheit: Teilen
Zusammenarbeit hat mit Ungleichheit zu tun. Sie ist umso stärker, wenn wir als ungleiche Wesen zusammenkommen und etwas tun, was uns eigentümlich ist und am meisten Spaß macht. Du kannst gute Opcodes schreiben, aber vielleicht keine guten Artikel. Du kannst gute Beispiele machen, aber vielleicht sie nicht gut verbreiten. Du hast keine Lust Code zu testen, aber du bringst gern Leute zusammen.
Vielleicht ist es eines der Probleme des Teilens, dass wir dabei zu sehr von etwas Gleichem ausgehen, das wir zerschneiden wie einen Kuchen. Für acht Menschen müssen wir ihn in acht Stücke teilen, damit alle etwas haben, anstatt dass einer sich überfrisst und andere in die Röhre schauen. Dieses Teilen, um einen Teil zu nehmen, um teilnehmen zu können, ist aber nur die Grundlage für ein tieferes Teilen. Das Nehmen ist nur die Voraussetzung des Gebens, und was wir geben, ist ungleich und geradezu unvergleichbar.
Wenn wir für dieses Teilen, für ein Teilen unserer Verschiedenartigkeit in einem Projekt, die Bedingungen schaffen können, auf der Basis völliger Freiheit, dann wird unser Projekt lebendig bleiben. Dieses Teilen organisieren wir nicht durch Lizenzen und Gebote, sondern durch Aufmerksamkeit und Freundlichkeit. Und das ist nichts Privates.
12 Warum
Wenn das alles nun so schön und befriedigend ist, warum kommen nicht immer mehr Leute zu uns, oder in andere Open Source Projekte, und der Gemeinbesitz wird größer, und das goldene Zeitalter bricht doch noch, und allgemein, an?
„Siehst du“, sprach Don Quijote, „nicht jenen Ritter, der auf einem Apfelschimmel uns entgegenkommt und einen goldenen Helm auf dem Haupte trägt?“
„Was ich sehe und erspähe“, entgegnete Sancho, „ist nichts anderes als ein Mann auf einem Esel, dunkelgrau wie der meinige, der auf dem Kopfe etwas Glänzendes trägt.“ 13
Ein Esel ist kein Apfelschimmel. Er ist nicht nur von Natur aus sehr viel kleiner und langsamer, er ist auch so eigenwillig, dass man mitunter viel Zeit braucht, um ihn ein Stück weiterzubewegen.
Und eine Barbierschale ist kein goldener Helm. Man kann sich rasieren damit, aber sie nicht zu Geld machen. Und man bekommt keinen allgemein annerkannten Status, sondern macht sich lächerlich, wenn man sie auf den Kopf setzt.
Wenn wir also den klugen Sancho richtig verstehen, liegt es an der Zeit, und am Geld. Und beides sind größere Themen, als es scheinen mag, denn sie deuten wiederum auf Gesellschaft und ihre Einrichtung hin.
13 Zeit
Sehen wir einmal von Werbestrategien ab, die Milliarden Dollar einsetzen, 14 damit Äpfel für Birnen verkauft werden können, und die unsere Insel auf ihren Landkarten nicht verzeichnen. Dann ist, glaube ich, der Hauptgrund dafür, dass nicht mehr Leute Open Source benutzen und entwickeln der, dass es viel Zeit kostet.
Wie sollte es nicht? Wir sind ja keine Kunden mehr, sondern Teil der Community. Es gibt niemanden, der ein Produkt daraufhin optimiert, dass es für jeden und jede möglichst leicht benutzbar ist. Statt drei Klicks muss man sich durch verschiedene, oft veraltete Beschreibungen lesen. Manches funktioniert nicht, jedenfalls nicht auf Anhieb, und eigentlich kommt es immer auf dasselbe raus: Wir sind kein Geschäft, sondern eine Community. Wenn du fragst, wirst du Antwort bekommen. Aber das heisst: man muss eigentlich immer „eintreten“ — auf die Mailing Liste gehen, in einem Forum posten. Das kostet Zeit; Zeit die wir nicht haben.
Ich bin wahrscheinlich nicht der einzige, der sich jahrelang damit herumgeschlagen hat, seine Audio-Hardware auf Linux verlässlich zum Laufen zu bekommen. Und wenn ich auf meine Studenten schaue, die ja erstmal lernen müssen, was ein Audio-Interface ist, auf was man achten sollte, wie sich die Anschlüsse unterscheiden, usw. — ich verstehe, dass sie froh sind, wenn sie ihren Mac haben, und da schnell einen Treiber installieren, und fertig. Wir alle wollen ja von Technik nicht zuletzt, dass sie funktioniert und uns nicht zu viel Zeit wegnimmt.
Und wir alle, wir Mitentwickler, wir wissen ja auch, wie viel mehr gemacht werden könnte, und wie viel wir nicht schaffen, weil wir keine Zeit haben. Csound Entwicklung könnte ein Vollzeitjob sein, für mehr als eine Person. Und die Dokumentation. Iain und ich haben seit zwei Jahren das Csound Floss Manual nicht mehr aktualisiert, obwohl es sehr nötig wäre, bei den vielen neuen Features. Und jeder von uns, der irgendetwas in unserem Projekt übernimmt, weiss, wieviel mehr süße Arbeit wartet, die gerne gemacht wäre ...
Aber warum haben wir keine Zeit dafür? Was sagt das über unseren Alltag? Heisst es nicht, dass eine inhaltliche Entscheidung (wie will ich leben) von einer Zeitnot getroffen wird? Ich habe keine Zeit für dies, es ist mir zu viel mich damit zu beschäftigen, so wichtig ist es mir dann auch nicht. Was sagt es über unsere Lebensweise, dass wir keine Zeit haben, uns (anders) zu entscheiden?
14 Geld
Keiner von uns verdient etwas mit dem, was wir hier tun. Jemand hat ausgerechnet, dass in dem Debian Projekt einige Milliarden Dollar an Arbeitswert stecken. 15 Und würden wir ausrechnen, was John, Michael, Victor, Steven und viele andere an hochqualifizierter Arbeit in unser Projekt gesteckt haben, kämen wir auch auf erkleckliche Beträge.
Das Schöne ist: So sind es Geschenke. Wir schenken uns gegenseitig etwas. Niemand kann etwas erwarten, niemand wird entlohnt; wenn ich also etwas tue, tue ich es, weil es meine Lust ist, oder die Verantwortung, die ich für eine Zeit übernommen habe, solange die Lust stimmt, und was ich dann tue, schenke ich dem Projekt, also allen. Das ist schön, und das ist eine besondere Qualität dieser Community. Es würde sich schon ändern, wenn wir Geld auftrieben, um einen professionellen Programmierer einzustellen. Ich bin nicht dagegen, natürlich würden wir dann mehr schaffen, aber etwas würde sich ändern. Jemand würde auf seine Stunden schauen, für mehr werde ich eigentlich nicht bezahlt, und wir hätten Ansprüche, warum machst du diesen Fehler, wir bezahlen dich doch gut, und es wäre nicht mehr nur alles ein Geschenk.
Nur: Von Geschenken lebte zwar Buddha, wenn er täglich mit der Bettelschale umherging, aber wir können damit unsere Wohnung nicht bezahlen, und nicht das Brot, und nicht den Computer, und nicht die Reise nach Montevideo zur Konferenz. Also haben wir andere Jobs, mehr oder weniger eng verbunden mit Csound, aber keinen, wo wir für die Entwicklung bezahlt würden. Und das ist der zweite Grund, weshalb wir hier auf einer Insel sind. Wir haben nicht nur wenig Zeit, weil wir viel anderes zu tun haben, wir müssen vor allem auch unser Geld mit anderen Dingen verdienen und machen also die Csound Entwicklung, vom Standpunkt des Erwerbs aus betrachtet, als Freizeit. Es ist für uns kein Hobby, aber im Rahmen unserer Verdienstordnung ist es ein Hobby.
Und wieder frage ich: Was sagt das über die Gesellschaft, in der wir leben? Durch welche Mechanismen entsteht eine geldwerte Bezahlung? Mechanismen, die in ihrer eigenen Logik rational sind, aber diese Logik führt dazu, dass weniger als hundert Menschen genauso viel besitzen wie die ärmere Hälfte der gesamten Menschheit. 16 Warum gibt es keine Mechanismen, die eine Arbeit, von der viele profitieren, wie in einem Open Source Projekt, angemessen entlohnt? Was sagt das über unsere Gesellschaft?
15 Die Galeere
Don Quijote erhob seine Augen und sah auf der Straße, die er zog, etwa zwölf Leute zu Fuß sich entgegenkommen; alle, wie die Kügelchen am Rosenkranz, an einer langen Kette mit den Hälsen aneinandergereiht und alle mit Handschellen gefesselt. Auch zogen mit ihnen daher zwei Männer zu Pferde und zwei zu Fuß; die Reiter trugen Musketen mit Radschlössern, die zu Fuß hatten Wurfspieße und Schwerter.
Sobald Sancho sie erblickte, sprach er: „Das ist eine Kette von Galeerensklaven, Zwangsarbeiter für den König, die auf die Galeeren kommen.“
„Wie? Zwangsarbeiter?“ fragte Don Quijote, „ist es möglich, dass der König irgendeinem Zwang antut?“ 17
Ist es möglich, dass der König irgend jemandem Zwang antut — sollen wir über diese Frage lachen oder weinen? Lachen: Denn sie widerspricht ja offenbar aller Realität. Könige, Kaiser, Führer, Präsidenten waren und sind doch offensichtlich diejenigen, die Kriege begonnen haben und noch heute beginnen. Sie sind es doch offensichtlich, die diejenigen Teile „ihres“ Volkes, die sich nicht ihrem Machtanspruch fügen, einschränken, ausbürgern oder umbringen — zumindest können sie es, weil sie es eben sind, die die Macht haben.
Weinen: Weil es einen anderen Begriff des Königs gibt. Ein König ist demnach das Symbol der Gesellschaft als Ganzer, ein ausgezeichneter, unantastbarer Körper für den Gesellschaftskörper, und in diesem Sinne darf er, so die Gesellschaft nicht auf Gewalt gebaut ist, natürlich niemandem Zwang antun. Das Dao De Jing, vor zwei ein halb tausend Jahren in China geschrieben, sagt:
Vom Besten der Herrscher wissen alle nur dass es ihn gibt
Den Nächstbesten preisen sie aus Zuneigung
Den Nächstbesten fürchten sie
Der Schlechteste wird verspottet 18
Der Beste der Herrscher handelt nicht, er tut niemandem Zwang an, er ist die leere verborgene Mitte, um die sich alles dreht. Er ist da, um nicht da zu sein. Es scheint, als erinnere uns der naive Satz des Ritters von der traurigen Gestalt an etwas, das wir längst vergessen haben. Vielleicht hat er uns unsere Insel gegeben, damit wir hin und wieder daran erinnert werden. Dass ein König sei, der niemandem Zwang antun kann. Dass es Arbeit ohne Geld gibt, die manchmal süß ist. Dass es Spaß macht, mit anderen zusammen etwas auf die Beine zu stellen. Dass wahre Freiheit sehr viel mit der Abwesenheit von Besitz zu tun hat.
Und Sancho Pansa brauchen wir, damit wir unsere Mägen nicht vergessen.
http://joachimheintz.de/don-quijote-die-insel-und-das-goldene-zeitalter.html
Fußnoten auf ebendieser Seite
Vorschaubild von Georges Rochegrosse (1859-1938) - art, Adam Cuerden - restoration