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Gemeinschaftliches Wohnen als Genossenschaft

„Vielfalt von Gemeinschaftlichem Wohnen“ – Teil 3

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Genossenschaften sind eine populäre Rechtsform für gemeinschaftliche Wohnprojekte. Die folgenden Aspekte verdeutlichen warum:

Zweck der Rechtsform: Wohnprojekte sind üblicherweise charakterisiert durch ein gemeinsames Interesse bzw. inhaltliches Anliegen einer bestimmten Gruppe (z.B. ökologischer Fokus, kulturelle Angebote zu schaffen, Ort für Alleinerziehende, Integration von Menschen mit und ohne Behinderungen). Dies lässt sich in einer Genossenschaft gut abbilden, denn der Zweck einer Genossenschaft muss laut Genossenschaftsgesetz „unmittelbar darauf gerichtet sein, die Mitglieder der Genossenschaft hinsichtlich […] ihrer sozialen oder ihrer kulturellen Belange durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern“. Im Gegensatz zu einem Verein muss das Wohnprojekt jedoch einem wirtschaftlichen Zweck dienen und hat einen relativ hohen Verwaltungsaufwand (u.a. Pflichtmitgliedschaft im Prüfungsverband).

Entscheidungen: Selbstorganisation und gleichberechtigte Mitbestimmung sind vielen Gruppen ein wichtiges Anliegen. Die Gruppe entscheidet insbesondere darüber, wer aufgenommen wird. In einer Genossenschaft besteht ein gleichwertiges Stimmrecht, unabhängig von der individuellen Kapitalbeteiligung („one person, one vote“).

Zugang: Genossenschaften verlangen üblicherweise eine Kapitaleinlage als Voraussetzung für den Beitritt. Teils erfordern hohe Kosten für Grundstückskauf und Bau mittlere oder größere Summe für die Einlage. Dies kann den sozialen Zugang u.U. limitieren.

Gemeinschaft: In Bezug auf die Ausprägung der Gemeinschaft fand eine Studie über genossenschaftlich organisierte Wohnprojekte vor einigen Jahren signifikante Unterschiede zwischen Projekten, bei denen eine Bewohnergruppe eine Genossenschaft gründete (Projektgenossenschaft) und Projekten, bei denen eine Bestandsgenossenschaft ein Wohnprojekt initiierte (BBR 2013). Projektgenossenschaften haben oft wesentlich dezidiertere Erwartungen an das gemeinschaftliche Wohnen als Bestandsgenossenschaften. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind meist bereit, sich überdurchschnittlich für das Projekt zu engagieren. Geht die Initiative zur Gründung eines Wohnprojektes dagegen von einer Bestandsgenossenschaft aus, wird den Bewohnerinnen und Bewohnern gemeinschaftliches Wohnen in einem konkreten Projekt geboten. Der ideelle und organisatorische Aufwand für den Einzelnen und die Gruppe kann sich dadurch verringern, weil manche Aufgaben von der Genossenschaft übernommen werden. Besonderer Unterstützung bedürfen jene Wohnprojekte, die sich selbst organisieren.

Verbreitung in Deutschland: Im Jahr 2013 bestimmte das Bundesinstitut für Bau- Stadt und Raumforschung die Anzahl von gemeinschaftlichen Wohnprojekten in der Rechtsform der Genossenschaften in Deutschland auf 199* .

WOHNPROJEKTBEISPIEL FÖHREINANDER, INSEL FÖHR

Das Wohnprojekt Föhreinander ist ein Beispiel für die gelungene Verbindung von Individual- und Gemeinwohlinteressen und der Kooperation mit Vereinen und Verbänden.

2006 entwickelten Mitglieder der Inselgruppe Föhr des Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) in Nordfriesland die Idee, neue Formen des Wohnens und Zusammenlebens in einem Mehrgenerationenhaus unter dem Motto „Gemeinsam statt einsam“ zu verwirklichen. Im August 2009 lag eine Machbarkeitsstudie vor, die vom BUND aus Mitteln der Bingo-Lotterie finanziert worden war. 2009 wurde die Genossenschaft „föhreinander“, Wohnen und Leben auf Föhr, gegründet. Mitglieder der Genossenschaft waren nicht nur potentielle Erstbezieher:innen, sondern ebenso Menschen, die sich vorstellen konnten, sich zu einem späteren Zeitpunkt für eine Wohnung in dem Projekt zu bewerben. Für die Umsetzung wurden ein Architektur- und ein Planungsbüro gewonnen.

2013 wurden die Wohnungen von etwa 60 Menschen bezogen. Wenn Wohnungen frei werden, erfolgt eine Neuvergabe nur an Genossenschaftsmitglieder, die – spätestens zum Einzug – ihren Erstwohnsitz auf Föhr haben. Zur Gemeinschaftsidee gehört, dass alle sich einbringen in Gartenar-beit, Veranstaltungsplanungen, Hilfeleistungen u.a. Nahezu alle Wohnungen sind öffentlich geför-dert (Sozialwohnungen). Die Personenzahldieser Wohnungen muss den Kriterien der sozialen Wohnräumförderung des Landes Schleswig-Holstein entsprechen. Dies erfordert einen gültigen Wohnberechtigungsschein.

Charakteristisch ist das Gemeinschaftshaus in gesonderter Trägerschaft des BUND und des Vereins „Die Brücke“. Sie nutzen dieses Haus für ihre jeweiligen sozialen bzw. naturschutz- und umwelt-schutzorientierten Zwecke. Es kann auch für Veranstaltungen gebucht werden.

Mehr Informationen: http://www.foehreinander.de

SOLIDARISCHES WOHNEN OST-2500 (ehemals AWIRO), ROSTOCK

Die Wurzeln der Genossinnenschaft reichen zurück in die Erhaltenswohnerinnen-Initiativen der 1990er Jahre in der Hansestadt Rostock. In der Wendezeit gab es damals in Rostocks Innenstadt viele baufällige Häuser, die von Menschen bewohnt wurden, die keine Miete zahlten, allerdings die Wohnsubstanz instand hielten. Aus dieser Bewegung heraus erhielt der Verein AWIRO 1998 einen Mietvertrag mit dem städtischen Wohnungsunternehmen WIRO für die Hausnummern 5 und 6 in der Niklotstraße. In den kommenden Jahren wurden die Häuser nicht nur zum Wohnen genutzt. Im Erdgeschoss und dem Keller befinden sich eine Jugendbegegnungsstätte mit Café-Betrieb, Werkstätten und Proberäumen.

Im Jahre 2023 wäre der Mietvertrag ausgelaufen. Um dem zuvorzukommen und die Häuser weiterhin nutzen zu können, wurde die Genossenschaft Solidarisches Wohnen OST-2500 eG gegründet. 2020 konnten schließlich die Häuser gekauft werden.

Die Genossinnenschaft will dauerhaft bezahlbare und selbstbestimmte Räume schaffen und erhalten. Privateigentum an Grund und Wohnraum soll dauerhaft zugunsten einer gemeinwohl-orientierten Bewirtschaftung ausgeschlossen werden. Die Genossinnenschaft versteht sich als Teil einer Bewegung, die das Recht auf Stadt verwirklichen will - für alle. Darüber hinaus verortet sich das Projekt als strikt antifaschistisch und antirassistisch.

Im öffentlichen Bereich wird u.a. Sozialberatung angeboten. Außerdem finden politische und kulturelle Bildung statt, u.a. Vorträge, Lesungen, Ausstellungen und Workshops.*

Über diese Serie: Gemeinschaftliches Wohnen scheint oft unübersichtlich, denn es ist sehr vielfältig: Jede:r versteht darunter etwas anderes, und jede Wohninitiative muss ihre gemeinsames Verständnis zu Beginn ganz individuell formulieren. In dieser Artikel-Serie bieten wir Euch einen Einstieg in diese Vielfalt: eine Definition, verschiedene Rechtsformen, konkrete Wohnprojektbeispiele und Argumente für das gemeinschaftliche Wohnen – immer mit Bezug zu Rostock. Gebt uns in den Kommentaren unten gerne Rückmeldungen, ergänzt, korrigiert usw. Viel Spaß beim Lesen!

Weitere Artikel in dieser Serie:

*https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/sonderveroeffentlichungen/2014/NeuesWohnen.html

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