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Geschichte des Elisabethheims

1. Behindertenfürsorge im 19. Jahrhundert – hier und anderswo

Während in anderen Teilen des späteren deutschen Reiches schon ab 1830 erste Fürsorgeeinrichtungen für körperlich Behinderte geschaffen werden, gibt es in Mecklenburg gibt es bis zur Ende des 19. Jahrhunderts keine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem Thema. Erst 1898 wird in den Regionen Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz eine erste so genannte „Krüppelzählung“ durchgeführt, die ermittelt, dass in der Region 1077 Körperbehinderte leben. In Rostock, das damals 50.000 Einwohner hat, sind es insgesamt 79 Kinder und Jugendliche und 112 Erwachsene. Diese Zahlen werden als alarmierend empfunden – vor allem von der damaligen Herzogin von Mecklenburg von Mecklenburg-Schwerin, Elisabeth, die die erfolgreich arbeitende Anstalt in Nowawes (damals so etwas wie eine ‚Best Practice‘ des deutschen Reichs) besucht. Sie regt die Errichtung einer „Landeskrüppelanstalt“ an und initiiert eine Sammelaktion, bei der die damals enorme Summe von 50.000 Mark zusammenkommt. Dank dieser Gelder werden schon 1899 drei Jungen in den Räumlichkeiten der Rostocker Ohrenklinik betreut.

2. Eigene Räumlichkeiten – und dann ein eigenes Heim

Nur acht Monate später wird in der Friedrichstraße 33 eine Parterrewohnung angemietet, in die nunmehr acht körperbehinderte Jungen einziehen. Die Einrichtung ist als Pflegeanstalt konzipiert und ist steht ab Mai 1901 unter dem Protektorat von Herzogin Elisabeth. Mit dem Einzug von neun Mädchen im Frühjahr 1902 werden neue Räume dringend notwendig. Man sucht Ort für ein eigenes Gebäude und findet ihn auf dem so genannten Heilig-Geist-Feld, in der Ulmenstraße 45. Das Grundstück befindet sich direkt neben dem 1890 eröffneten Armenhaus. Das Grundstück selbst erhält das Land Mecklenburg damals als Spende – von der „Administration der Hospitalien zum Heiligen Geist und St. Georg“, Rostocker Rat und Bürgerschaft stimmen zu. 1907 ist dann Elisabethheim fertig und wird feierlich eingeweiht: modern, bewusst großzügig gestaltet und offen – als Lebensort, der für Jungen und Mädchen unter 14 Jahren „ohne Unterschied des Religionsbekenntnisses Pflege, Erziehung und Ausbildung“ gewährt. Der Bedarf ist groß – schon nach drei Jahren werden ersten Erweiterungen des Gebäudes nötig.

3. Das Leben im Elisabethheim

1913 leben schon 65 Kinder im Elisbethheim. Viele von ihnen kommen aus armen Verhältnissen, also zahlen Armenkassen oder private Wohltäter das Kostgeld. Unter der Leitung einer so genannten „Hausmutter“, einer Diakonissin des Stifts Betlehem in Ludwigslust, werden die Kinder nicht nur versorgt und betreut, sondern erhalten auch Unterricht in den Fächern der einklassigen Volksschule. Sie werden von Lehrern der benachbarten Borwinschule (Jungen) und Margaretenschule (Mädchenschule) unterrichtet. Neben diesen drei Stunden Unterricht pro Tag (man war damals der Meinung, mehr sei behinderten Kinder nicht zuzumuten, lernen die Jungen Handwerke, wie Bürstenherstellung und Stuhlflechterei, die Mädchen verschiedene Handarbeiten. In den Schulferien fahren die im Heim lebenden Kinder nach Hause.

4. Unter berühmter Leitung: Paul Friedrich Scheel

Die ärztliche Betreuung der Kinder übernimmt der Leiter der chirurgischen, später orthopädischen Universitätsklinik. Ab 1919 ist dieser Leiter Paul Scheel, Mecklenburgs damals einziger Facharzt für Orthopädie. Er erteilt auch so genannte orthopädische Turnstunden, zunächst im Gebäude, später auf dem neu hinzugekommenen Hof. Auf diesem werden in den 1920er Jahren Ausbildungsstätten eingerichtet, in denen die Kinder einen Beruf erlernen und nun also auch über das 14. Lebensjahr hinaus im Heim bleiben können. Außerdem wird im Haus umgebaut – ein Turnsaal und ein Operationssaal entstehen.

4. Kriegsjahre

Das so beschriebene Leben kann auch im Krieg bis 1942 recht unverändert aufrechterhalten werden. Und erst 1944 evakuiert man die im Heim lebenden Kinder und Jugendlichen nach Kühlungsborn – und schützt sie damit nicht nur vor den Bombenangriffen auf Rostock, sondern auch vor den Euthanasiebestrebungen der Nazis, denen tausende behinderte Menschen in Deutschland zum Opfer fielen.

5. Nach 1945

Die Kinder kehren unmittelbar nach Kriegsende in das im Krieg nicht beschädigte Heim zurück. Ein Jahr später zieht die Orthopädische Universitätsklinik mit ins Haus, was den Betrieb der Räumlichkeiten stark einschränkt. Wegen des Platzmangels stellt die Stadt das benachbarte ehemalige Armenhaus und Kinderheim zur Verfügung, so dass dort 1848 eine Heimabteilung für körperbehinderte Kinder und Jugendliche eingerichtet werden kann. Das Elisabethheim erhält einen neuen Namen – und wird Rostocks Orthopädische Klinik. Paul Scheel wird 1953 ihr Leiter. Und der Inhaber des ersten Lehrstuhls für Orthopädie. Heute trägt die Rostocker Körperbehindertenschule in der Semmelweisstraße seinen Namen.

6. Von Leerstand und Verfall

Nachdem im Jahr 2004 die Rostocker Frauenkliniken zusammengelegt werden und die Orthopädische Klinik in die Doberaner Straße zieht, steht das Gebäude leer. Fehlende Schutz- und Instandhaltungsmaßnahmen lassen es immer weiter verfallen. Und doch ist noch 2010 eine neue Nutzung angedacht, die den Erhalt des Hauses vorsieht. Anders verhält es sich, als das Studentenwerk nun 2016 Pläne für eine Nutzung des Geländes als Mensa und Ort studentischen Wohnens entwickelt – jetzt wird konstatiert, dass das Gebäude zu marode sei, um es zu erhalten. Schon sehr bald soll es aus dem Rostocker Stadtbild verschwinden und ein moderner Neubau an seine Stelle treten.

7. Vom Einsatz für den Erhalt des Hauses

Die Abrisspläne werden von vielen Rostockern mit Empörung aufgenommen. Man spricht im Ortsbeirat vor und startet eine Petition für den Erhalt des Gebäudes, die mehr als 1200 Menschen unterzeichnen. Der Ortsbeirat der KTV und auch der Gestaltungsbeirat der Hansestadt Rostock sprechen sich engagiert für den Erhalt des Gebäudes aus. Doch weder dies noch die Tatsache, dass der Stadtteil eine Erhaltungssatzung hat, zeigen irgendwelche Wirkung. Was die Fragen aufwirft, welchen Wert all diese demokratischen Instrumente und Gremien haben. Offene Briefe an das Bildungsministerium in Schwerin und den Rektor der Universität Rostock werden im Juni 2017 versendet – und bleiben ohne jede Reaktion. Ein Antrag, das Haus unter Denkmalschutz zu stellen, wird abgelehnt mit der Begründung, das Haus sei schon so stark baulich verändert, dass es nicht mehr als Denkmal tauge. Eine öffentliche Diskussion im Ortsbeirat muss vertagt werden – und findet daraufhin erst statt, als die Abrissgenehmigung für das Gebäude längst erteilt ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Abriss des geschichtsträchtigen Hauses schon in wenigen Wochen beginnen.

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